Der Hortensiengarten by Marie Lamballe

Der Hortensiengarten by Marie Lamballe

Autor:Marie Lamballe [Lamballe, Marie]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Bastei Entertainment
veröffentlicht: 2017-03-20T23:00:00+00:00


21

Am folgenden Morgen geschah etwas ganz und gar Unerwartetes: Die Priorin bat Giselle, an einer gemeinsamen Beratung teilzunehmen.

»Wir wollen uns zusammensetzen, um über die wirtschaftliche Zukunft unseres Klosters zu sprechen, liebe Madame Esch-Lamartine. Und da ich der Ansicht bin, dass auch Sie dazu beitragen könnten, bitte ich Sie herzlich, sich um zehn Uhr hier im Refektorium mit uns zusammenzusetzen.«

Giselle war so erstaunt, dass sie zunächst kein Wort erwiderte. Stattdessen kaute sie das Weißbrot mit Erdbeermarmelade umständlich zu Ende und überlegte, was Mutter Athanase wohl im Schilde führte. In welcher Weise sollte sie, Giselle Esch-Lamartine, zum wirtschaftlichen Gedeihen des Klosters beitragen? Nun – auf jeden Fall war diese Einladung ein großer Vertrauensbeweis, den sie nicht zurückweisen konnte.

»Gern …«

Da sie bis zehn Uhr noch eine gute Stunde Zeit hatte und es ausnahmsweise nicht regnete, suchte sie in der Remise nach einer Hacke und begann, den Boden um den Brunnen herum nach Resten der Heiligen Jungfrau abzusuchen. Es war ein mühsames Unterfangen, weil unter dem Gras allerlei Wurzelwerk gewuchert war, das zuerst abgestochen werden musste. Der Blitzschlag war immerhin ein gutes Jahrhundert her, da hatte sich über den Trümmern eine Menge an Erde und Pflanzen abgelagert. Verbissen hackte sie herum, verfluchte die geizigen Nonnen von La Joie Notre Dame, die zwar für die Instandsetzung der Klostergebäude gesorgt hatten, die Neuanlage des Klostergartens aber ganz offensichtlich den drei Nonnen und der Novizin Nolwenn überließen. Ora et labora. Betet und plagt euch. Oder so ähnlich.

Als ihre Armbanduhr fünf vor zehn zeigte, hatte sie ganze drei Bruchstücke aus Sandstein geborgen. Ein Stück vom Mantelsaum, ein Teil, das vorerst nicht eingeordnet werden konnte, und – das war das Wichtigste – den Kopf der Statue. Eine faszinierende Entdeckung, denn es handelte sich um einen Januskopf. Die Jungfrau auf dem Brunnen hatte zwei Gesichter gehabt, hatte in entgegengesetzte Richtungen geblickt. Giselle war begeistert von dieser Entdeckung. Dies war eine sehr alte Darstellung, die auf römische oder keltische Ursprünge hinwies. Und sie war fast sicher, dass sie den Nonnen nicht gefallen würde, aber da war nichts zu machen. Ihr Auftrag war schließlich, die Marienstatue, die auf der zerstörten Brunnenhaube gestanden hatte, wiederherzustellen. Und genau das würde sie tun.

»Ich glaube, Madame Groac’h«, sprach sie in das Brunnenloch hinein. »Ich glaube, wir beide werden hier noch viel Spaß haben.«

Es hallte ein wenig in der Tiefe, das war ihr schon mehrfach aufgefallen. Möglich, dass der Brunnen auf einen unterirdischen Wasserlauf traf, der den Stein ausgehöhlt und eine Art Röhre geschaffen hatte. Wenn es so war, dann würde das Wasser vermutlich in den See laufen.

Im Refektorium empfing sie Mutter Athanase’ vorwurfsvoller Blick, denn sie war zehn Minuten zu spät.

»Entschuldigung, musste mir noch die Hände waschen …«,

Es gab Wasser, Orangensaft aus der Tüte und runde Kekse, die frisch gebacken waren und einen leckeren Duft verströmten. Giselle langte hungrig zu.

»Da wir nun alle beisammen sind, können wir mit der Besprechung beginnen«, sagte die Priorin. »Es geht darum, unser Kloster wirtschaftlich auf eigene Füße zu stellen. Das wird nicht von heute auf morgen möglich sein, aber es



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